Monday, October 5, 2015

Mentales Mapping - die Landkarte im Gehirn

Mentales Mapping - die Landkarte im Gehirn

Tom Appleton 04.10.2015

Oder: Was Politiker so alles NICHT im Kopf haben

Dass die Anwärterin auf den Posten der amerikanischen Vize-Präsidentschaft, Sarah Palin, sintemalen "Afrika" für "ein Land" hielt, mochte man einer Gouverneurin von Alaska noch durchgehen lassen. Meinte sie doch auch, den russischen Bären in direkter Luftlinie von ihrem Balkon aus beobachten zu können.

Eine Schwäche in geistiger Geographie - obwohl vergleichbar mit einer Schwäche in Kopfrechnen oder felerhafter Rechtsreibung - gilt den meisten Menschen eben bestenfalls als reines Kavaliersdelikt. Schließlich könnte auch Otto Normalverbraucher auf einer leeren Umrisskarte von Deutschland[1] kaum für "Bad Kreuznach" oder "Kaiserslautern" sein Kreuzchen an der richtigen Stelle hinsetzen. Ganz zu schweigen von "Erfurt" oder "Bad Sooden-Allendorf"

Und das Puzzle-Spiel für Dreijährige, mithilfe dessen die Kinder lernen könnten, "Mali" oder "Nigeria" auf einer Karte von "Afrika" richtig unterzubringen — sucht man ebenfalls vergebens in irgendeinem Spielzeuggeschäft.

Kein Wunder also, wenn ein Politiker vor versammelter Bürgerschar beispielsweise mit Wörtern wie "Moskau", "Beijing" oder "Washington" um sich wirft, dass das Publikum diese Faschingskamellen zwar begierig aufklaubt aber mit höchst unterschiedlichen Assoziation verbindet.

Mir ging es vor ein paar Tagen genau so, als eine junge Frau an der Kasse im Supermarkt mir mitteilte, dass sie aus Kiribati[2] stammt.

Ich wusste zwar, dass es sich um einen der größten Staaten der Erde handelt, wenn man die zwischen den Inseln liegende Meeresfläche dazurechnet. Und dass er vermutlich irgendwo inmitten des Pazifiks, etwa auf Höhe des Äquators liegen würde, daran glaubte ich mich ebenfalls noch zu erinnern. Aber danach gab es nur noch nebuloses Rauschen.

Nun muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich selber in Neuseeland wohne, also rein pazifikmäßig "um die Ecke" von Kiribati. Vor ein paar Jahren, als ich noch in Wien lebte, hatte ich eine recht nebulose Vorstellung, wo sich beispielsweise "Brno" oder "Bratislava" befänden. Umgekehrt hatten die Wiener große Schwierigkeiten, das Wort "Australien" aus ihrer Vorstellung auszublenden, wenn sie mit mir über "Neuseeland" sprachen. Ich sagte beispielsweise, "Ich komme aus Neuseeland". Und sie sagten darauf: "Und? Wie ist es da so, in Australien?"

Also, das Konzept des "mental mapping", der "geistigen Geographie" — der Vorstellung davon, wie wir uns die verschiedenen Länder und Regionen der Erde im Bezug zueinander irgendwie irreal zurechtlegen — ist durchaus real. Insbesondere auch für Politiker.

An dieser Stelle müsste nun eigentlich ein Cartoon stehen, der nur leider in Telepolis, dank der Immaterialgüterrechtssituation, die in Deutschland herrscht, wenn es um die Reproduktion von Abbildungen aus dem World Wide Web geht, nur verlinkt[3] werden kann. Das hier ist der Link dazu[4]

Es handelt sich dabei um eine Zeichnung des vielfach preisgekrönten politischen Karikaturisten David Horsey aus dem Jahr 1982, die in Form einer grotesk verballhornten Weltkarte das Weltbild des seinerzeitigen US-Präsidenten Ronald Reagan darstellt. Diese Karte erlangte international Berühmtheit und ist immer wieder abgewandelt worden. Ich vermute, dass der ursprünglichen Karikatur ein Vor-Bild aus einer psychologischen Fachzeitschrift zugrunde lag, das die verengte Weltsicht eines Demenzkranken darstellt.

Der Karikaturist schaffte es, die mentale Geographie Ronald Reagans, dieses "dümmsten Präsidenten seit Herbert Hoover", wie ein Journalist die ehemalige Hollywood-Charge Reagan nannte, prägnant auf den Punkt zu bringen.

Man sieht eine Weltkarte, die zu formlosen Kartoffelklumpen zusammengeschmolzen ist, auf der zwei Wildwesthelden sich zu einem nuklearen Zweikampf rüsten — Reagan und sein sowjetischer Gegenspieler, Breschnew.

In der heute üblichen revisionistischen Um-Interpretation amerikanischer Geschichte — wonach beispielsweise der Vietnam-Krieg nicht mehr als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt, sondern als eine nationale Ruhmestat dargestellt wird, vergleichbar etwa der türkischen Interpretation des Genozids an den Armeniern — findet sich entsprechend auch eine Um-Interpretation dieser Karikatur[5].

Die Zeichnung stelle nicht wirklich Reagans Weltsicht dar, heißt es da, sondern nur eine parodistische Interpretation dieser Weltsicht. No na, möchte man sagen, was sonst? Andererseits war die Karikatur eine sehr treffende und genaue Darstellung des Reaganschen Politikverständnisses. Nur einem bereits relativ dementen Präsidenten-Darsteller wie Reagan konnten seine Berater eine solche lebensgefährliche Konfrontationspolitik — inklusive Star Wars, Neutronenbombe und anderer Verrücktheiten —- überhaupt schmackhaft machen.

Letzthin sah ich allerdings einen ARTE-Dokumentarfilm, betitelt, "Täuschung — Die Methode Reagan." Darin schildert der deutsche Dokumentarfilmemacher Dirk Pohlmann — hier zu erleben im Gespräch mit Ken FM[6]

— wie die Regierung Reagan systematisch die Sowjetunion totrüstete und europäischen Bemühungen um einen West/Ost-Ausgleich Knüppel zwischen die Beine schleuderte. Pohlmann glaubt, dass das nicht zuletzt dadurch geschah, dass Politiker (wie im Fall Willy Brandt) politisch, oder (wie im Fall Olof Palme) physisch abserviert wurden.

Es bedarf tatsächlich des KenFM-Interviews, um die Intention des Films nicht misszuverstehen, der zuweilen im Ton wie ein Propagandafilm für die Politik Reagans daherkommt. Auffallend war das große Lob für die überragende Intelligenz Ronald Reagans. O-Ton Film: "Als er 1981 Präsident wird, ahnen nur wenige, dass er kein zweitklassiger Schauspieler ist."

Was natürlich gar nicht stimmte. Die ganze Welt kannte ihn einzig als drittklassigen Schauspieler, der für Chesterfield-Zigaretten Werbung machte[7]. Oder im Film mit dem Affen, in Bedtime for Bonzo[8] eine Nebenrolle spielte — und der natürlich auch als Präsident viel Zeit damit verbringen würde, seinen Schönheitsschlaf zu bekommen.

Überraschend ist daher im Pohlmann-Film die Aussage, Reagan sei "ein kampfbereiter Konservativer mit dem Willen zur Macht" gewesen. Diese Aussage traf höchstwahrscheinlich mit größerer Wahrhaftigkeit auf seine Ehefrau Nancy Reagan zu, an deren Gängelband der Präsident gewissermaßen wie ein amerikanischer Lübke durch die Gegend tatterte. Jerzy Kosinskis Roman Being There[9], verfilmt mit Peter Sellers[10], wirkte (obwohl einige Jahre vor Reagans Wahl zum Präsidenten geschrieben und gedreht) wie eine endlich wahr gewordene Zukunftsvision dieser Präsidentschaft. Eine antizipierte Parodie der Reagan-Jahre. Ein Demenzkranker an den Schalthebeln der Macht. Es gab Bücher mit seinen gesammelten dümmsten Aussagen, wie beispielsweise der Antwort, als er nach seiner Wahl zum Gouverneur von Kalifornien gefragt wurde, wie er nun seine Gouverneurschaft anzugehen plane. "Ich weiß es nicht," sagte Reagan. "Ich habe noch nie zuvor einen Gouverneur gespielt."

Die australische Atomwaffengegnerin und Ärztin Helen Caldicott berichtete von einem persönlichen Treffen mit Reagan Anfang der Achtzigerjahre: "Und ich kann Ihnen sagen, der Mann —- phew!" Das leichte Pfeifen am Schluss des Satzes sollte anzeigen: "Ein lebensgefährlicher Vollkoffer". Tatsächlich trat Reagan nach seiner Amtszeit kaum noch öffentlich in Erscheinung, und obwohl er sein volles und gewiss ungefärbtes Haar bis ins hohe Alter weiter trug, hatte sich die Alzheimer-Krankheit längst in ihm festgefressen.

Im Film indessen wird einer von Reagans Mitstreitern, Thomas C. Reed, Sonderberater im Nationalen Sicherheitsrat, rückblickend folgendermaßen zitiert:

Die Auffassung in den USA war, 'Er ist ein dummer Schauspieler.' In der Sowjetunion: 'Ein Leichtgewicht.' Das war komplett falsch. Die Altvorderen der Demokraten trafen sich nach der Wahl und einer sagte, wörtlich, Reagan sei bloß ein liebenswerter Hohlkopf. Das war er nicht. Man muss das begreifen. Reagan dachte nicht ein bisschen schneller, sondern 10 mal schneller als Sie und ich, als wir alle. Seine geistigen Fähigkeiten waren immens.'

Da haben wir also den heutigen Geschichtsrevisionismus in den USA in Reinkultur, und damit auch die Ursache für die "immense" Bewunderung, die man heute in den USA der Reagan-Zeit entgegenbringt.

Mentales Mapping im New Yorker, bei Wahlen und in der Weltgeschichte

Das Mentale Mapping, das mit der David Horsey-Karikatur an Popularität gewann, begann in ähnlicher Weise mit dem berühmten Cover des New Yorkers von Saul Steinberg. Es zeigte die Weltsicht des "New Yorkers"- sei es des Menschen, der New York bewohnt, oder eben des Magazins, das von einer extrem New York-zentrierten Nahsicht (Nabelschau) den Rest der Welt nur noch schemenhaft wahrnimmt.

Heuristik des Alltagslebens: Auch der Großstadtbewohner New Yorks, so scheint der Karikaturist Saul Steinberg zeichnerisch ausdrücken zu wollen, findet sich am Besten im kleinstädtischen Bereich zurecht. Die große weite Welt ist ihm schnuppe.

Dass gerade dieses Bild heimelige Wärme ausstrahlt, beweisen die unzähligen Kopien, die in anderen Ländern und Bereichen pilzförmig aus der Erde schossen.





Die mentale Landkarte des New Yorker ähnelt in ihrer Einfachheit der Geisteshaltung Reagans, wie sie in der Horsey-Karikatur persifliert wird. Das reale Gegenstück dazu findet sich in einer anderen Landkarte, die dem Betrachter erst in ihrer plakativen Wucht die ganze politische Misere der Reagan-Zeit vor Augen führt (bzw. mit der geballten Faust aufs Auge knallt).

Hier sieht man eine Landkarte der USA aus dem Jahr 1980 - also aus dem Jahr, als Reagan gewählt wurde. (Seine Präsidentschaft[11] trat er dann 1981 an.)

Die blau eingezeichneten Staaten sind diejenigen, die Reagan für die Republikaner gewonnen hat - und dann gibt es noch ein paar kleine "rote" Flecken, wo Jimmy Carter damals wiedergewählt wurde.

Vier Jahre später, hier sind nun verwirrenderweise die Republikaner rot eingezeichnet[12] - und Reagan hat alle Staaten der USA für sich gewonnen, mit Ausnahme eines einzigen, Minnesota, den Walter Mondale für sich reklamieren konnte (blau eingezeichnet, für die Demokraten.)

Reagans Sieg war damit so groß wie Richard Nixons Erdrutsch-Sieg aus dem Jahr 1972[13] — wobei Nixon ja bereits ein halbes Jahr später über die Watergate-Affaire stolperte.

Wer sich die Mühe macht, heute einmal dem erfolgreichsten Kandidaten für die amerikanische Präsidentschaft im nächsten Jahr, Donald Trump, zu lauschen, wird rasch bemerken, dass auch er eine Art Reagansche Landkarte vor seinem Wählervolk ausbreitet. Am deutlichsten zu erkennen ist die Große Mauer, die er auf einer Strecke von über 3.000 Meilen zwischen Mexiko und den USA errichten lassen will. Ob ihm wohl die Kleine Kanzlerin aus der deutschen Schwesterpartei, die ja selber erst über eine solche Mauer kriechen musste, davon abraten wird?

In Frankreich jedenfalls ist La Merkel superbeliebt. Man scheint die unglaubliche Madame Merkel regelrecht zu lieben. "Ach, wenn sie doch bloß eine Französin wäre", schwärmt ein Nachrichten-Magazin auf seinem Cover.

"Schade, dass sie keine Französin ist"

Aber sicher, die Mauer war auch für Westdeutschland ausgesprochen lukrativ, während eine Annexion von Mexiko die USA gewiss noch teurer zu stehen käme als das gehobene Grenzprojekt der Baufirma Trump.

Der andere Punkt auf Donald Trumps mentaler Landkarte ist die arabische Chaos-Zone, die er offenbar mal eben schnell irgendwie zubetonieren möchte.

Man traut Trump zu, dass er über bessere Geographiekenntnisse verfügt als Sarah Palin - und dass er sich mit Wladimir Putin auf "Kumpel"-Ebene treffen will, wirkt (für amerikanische Verhältnisse) geradezu hellsichtig. Immerhin ist es Trump gelungen, seine unmittelbaren Konkurrenten, Hillary Clinton, Jeb Bush und sogar den Amtsinhaber Barak Obama, politisch massiv zu bedrängen. Die ständige Aufforderung an Obama, nun doch endlich eine amerikanische Geburtsurkunde vorzulegen, war primitiv, aber wirksam. Man spürt, wie die Trump-Kritiker sich in hilflose Witzeleien über die Toupee-artige Frisur des Kandidaten flüchten, weil sie mit einem solchen Gegner auf andere Weise nicht umzugehen wissen.

Und man fühlt sich, aus deutscher Sicht, an Kritiker wie Sebastian Haffner oder Kurt Tucholsky erinnert, die sich mit Hitler zu Beginn gar nicht erst beschäftigen wollten, weil er ihnen zu primitiv vorkam.

Nachträglich kann man sich fragen, wie wohl das Mentale Mapping eines Adolf Hitler ausgesehen haben mag. Und — welche Überraschung! — es gibt sogar ein ganzes Buch zu diesem Thema. Hier findet man die rekonstruierten geistigen Landkarten von Churchill, Roosevelt, Mussolini, Atatürk und sogar —Hitler! Und? Wie sah seine mentale Weltkarte aus? Wenig überraschend. Der Autor der Hitler-Studie präsentiert ein Bild, das ziemlich genau der Reagan-Karte von Horsey gleicht - mit zwei dicken Klumpen, Deutschland und Russland. Hitler denkt noch in Kategorien der Kolonialreiche. Auf der restlichen Welt ist für Deutschland nichts mehr zu holen, also muss Russland leergeräumt werden und deutsche Siedler müssen das neue, freigeräumte Land besiedeln.

Welche Vorstellung hatte Adolf Hitler von der Geographie der Sowjetunion?

Anhang

Links

[1] http://www.spiegel.de/forum/fundbuero/unbekannter-ort-deutschland-thread-120813-1.html
[2]
https://de.wikipedia.org/wiki/Kiribati
[3]
http://www.democraticunderground.com/discuss/duboard.php?az=view_all&address=439x358317
[4] http://kelsocartography.com/blog/wp-content/uploads/2009/09/the-world-according-to-ronald-reagan.jpg
[5]
http://bigthink.com/strange-maps/38-the-world-according-to-ronald-reagan
[6]
https://www.youtube.com/watch?v=_af_uTuza2A
[7]
https://img1.etsystatic.com/000/0/5668105/il_570xN.267426967.jpg
[8]
https://en.wikipedia.org/wiki/Bedtime_for_Bonzo
[9]
http://www.amazon.de/dp/055299037X/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[10]
http://www.amazon.de/dp/B001IWELG8/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[11]
http://presidentelect.org/e1980.html
[12]
http://conservatives4palin.com/2012/09/romney-may-be-the-end-of-the-line-for-the-republican-establishment.html/reagan-mondale-1984-electoral-college-map
[13]
http://media.nola.com/politics/photo/em-map72jpg-9f2d60c17a30fa26.jpg

Artikel URL: http://www.heise.de/tp/artikel/45/45974/

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